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Sichtbeton

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Sichtbeton

Sichtbeton ist laut Architekten innovativ, authentisch und ehrlich. Doch welche Eigenschaften kann er aufweisen?

Innovativ – neuartig, damit kann höchstens die Formensprache gemeint sein, denn das Material Beton kannten schon die alten Römer und Sichtbeton kommt bereits seit mehr als hundert Jahren zum Einsatz. Neuartig ist er also schon mal nicht. Authentisch – hinsichtlich der Echtheit gesichert. Gesichert ist vor allen Dingen die Künstlichkeit des Sichtbetons, also die gesicherte Echtheit der Künstlichkeit als besondere Qualität? Skulptural – abgeleitet von Skulptur, dreidimensionale Werke, die aus festem Material mittels eines Verfahrens (Abtragen, Ausstechen, Aushöhlen) geschaffen werden. Entsteht Beton nicht genau anders herum? Monolithisch – von Monolith, durch geologische Kräfte entstandener Einzelfelsen. Gehören dazu wirklich auch die „Mischkräfte”, die Beton entstehen lassen? Ehrlich – hat Sichtbeton denn ein Bewusstsein? Und ist es dann ehrlich von ihm, so zu tun, als wäre er aus Stein? Ist es ehrlich, fertiggestellte Sichtbetonwände nachträglich in Sichtbetonoptik zu retuschieren? Ist es ehrlich, Gebäude aussehen zu lassen wie aus einem Guss, indem man die eben doch notwendigen Fugen kaschiert? Und wie sehen ihn die Nutzer? Die Nutzer finden völlig andere Attribute wie grau, trist, kalt, schwer, abweisend.

Trist und grau

Grau – Beton ist grau. Wer will da widersprechen? Trist – traurig, öde, karg, es werden nur wenige Reize über die Struktur und die Textur ausgeübt. Auch die einheitlich graue Farbe bietet kein Seherlebnis. Sichtbeton ist über die Fläche gesehen stimulationsarm. Kalt – das menschliche Empfinden für den Mangel an Wärme. Dichte Materialien wie Metall, Fliesen, Stein und eben Beton führen Wärme aus der Hand ab. Schwer – ist er auch, denn die hohe Dichte des Materials erzeugt ein hohes Gewicht. Abweisend – ablehnend, verweigernd, Beton ist unveränderbar. Räume aus Sichtbeton kann man sich nicht aneignen.

Anscheinend beschäftigen sich Architekten nicht mit so banalen Dingen wie den direkt erfahrbaren Eigenschaften eines Materials. Denn das offensichtlich Sichtbare sehen sie nicht. So betrachtet ist der Nutzer authentischer, er verlässt sich auf seine Wahrnehmung und erlebt eine graue und kalte Wand als graue und kalte Wand.

Und was sagen Fachleute, die die Wirkung des Sichtbetons auf den Menschen erforschen? „Mit der Massivität, Unveränderbarkeit, Maßlosigkeit und dem Gestaltungsmangel von Beton assoziiert man Zwänge, Genormtes und starre Ordnungen. Die Festlegung auf ungeliebte Eigenschaften. Versuche der Werbung, Beton mit Qualitäten des „Heimeligen” oder „Edlen” zusammenzubringen, hält man für ein „naives Bemühen”, dessen Scheitern offensichtlich ist … Man ist bestrebt, sich so weit wie möglich zu distanzieren, entweder, indem man das Material überdeckt, oder seine Wahrnehmung von ihm abzieht: Man hat nichts damit zu tun und geht halt vorbei”, so Ulrike Steppat, Psychologische Untersuchung über die Materialqualität von Beton, Köln 1991.

Konzentration auf das Wesentliche

Dagegen die Liebeserklärung der Architekten: „ … „Brutale” Bauten aus rohem Beton haben eine ähnliche Faszination wie Ruinen: Alles Sekundäre, alle Applikationen sind abgefallen. … Nichts lenkt hier vom Wesentlichen ab oder verstellt den Blick auf die architektonische Idee; die nackten Formen sind – von allem Dekorativen befreit – pure Architektur”, sagt zu diesem Thema Stephan Braunfels, Bauen mit Beton – Liebe und Leid, Baumeister Ausgabe 2/2014. Ruinen und nackte Formen – pure Architektur ist sich selbst genug. Und wo bleibt in diesem Szenario der pure Mensch? Wird er hier zum eher ungewollten dekorativen Element? Braunfels beschreibt ebenfalls ausführlich, wie schwierig und kostenintensiv es ist, qualitativ guten Sichtbeton herzustellen und kommt zu dem Ergebnis: „Vergolden ist billiger”. Er verteidigt die aufwendige und teure Herstellung als Qualitätsmerkmal, bleibt aber die Erklärung schuldig, um welche Qualität es sich dabei handelt.

„Die nackten Formen” sind teurer als eine Vergoldung. Es erfordert jede Menge Spezialisten für ihre Herstellung und für die fast immer notwendige und aufwendige Nachbesserung. Auch der zusätzlich erforderliche Schallschutz treibt die Kosten weiter in die Höhe. Und ist dann alles in die Jahre gekommen, zeigt sich eine unansehnliche Patina, da Sichtbeton, wie alle Kunststoffe, wenig ästhetisch altert. Dazu kommt, dass sich selbst kleinste Umbauten als problematisch und kostenintensiv gestalten. Geht man davon aus, dass das menschliche Leben einer permanenten Veränderung und Weiterentwicklung unterworfen ist, sollten auch die uns umgebenden Räume eine Weiterentwicklung der Nutzung unterstützen. Dagegen sperrt sich das Gebäude aus Sichtbeton, gebaut für die Ewigkeit, ohne jede Chance auf Veränderung.

Neben Le Corbusier ist Tadao Ando der wohl berühmteste Liebhaber von Sichtbeton. Er bezeichnete ihn sogar als den „Marmor der Neuzeit”. Aber im Gegensatz zu Beton (Zement, Kies, Sand und Wasser) ist Marmor ein Carbonatgestein, das aus den Mineralien Calcit, Dolomit oder Aragonit besteht. Marmor ist das Resultat einer Metamorphose, entstanden durch hohen Druck und hohe Temperaturen, die über einen langen Zeitraum einwirken. Beton dagegen: „Als Merkmal, das Beton in besonderer Weise kennzeichnet, wird seine Künstlichkeit herausgestellt: Der Werkstoff ist, von vornherein ein Produkt, das nur durch menschliche Erfindung und durch die technische Aufbereitung existiert. … Dabei gehen die Eigenqualitäten der Inhaltsstoffe, denen man z.T. noch eine Natürlichkeit zubilligt, verloren und es entsteht ein namenloser Stoff aus der Fertigpumpe.” Voriges Zitat stammt von Jens Soentgen, „Das Unscheinbare – Phänomenologische Beschreibungen von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden”.

Ästhetische Ausstrahlung

„Marmor der Neuzeit” – warum suchen die Planer immer wieder, gerade zu verzweifelt, nach Analogien für das Material Beton und seien sie auch noch so abwegig? Um den Einsatz des „namenlosen Stoffs aus der Fertigpumpe” zu rechtfertigen und damit die eigene Arbeit zu überhöhen und zu glorifizieren?

Beton kann in jede Form gegossen werden und in Verbindung mit Stahl lassen sich Bauformen realisieren, die in anderen Materialien viel schwieriger umzusetzen oder unmöglich wären. Da gibt es so spektakuläre Einsatzmöglichkeiten für Sichtbeton wie Brücken, Flugzeughallen, Fußballstadien, Kirchen und Museen, aber bitte, keinen Sichtbeton in Lebens- und Arbeitsräumen einsetzen. Diese Räume dienen dem längeren Aufenthalt, daher sollten sie direkt auf den Menschen bezogen sein und ihn als permanentes Lebensumfeld unterstützen. Das kann Sichtbeton nicht leisten! Ein Gebäude, das über seine gegossene Unabänderlichkeit bereits am Tag der Fertigstellung in sich erstarrt ist, bietet keinen Raum für Menschen.

Fritz Leonhardt, einer der einflussreichsten Bauingenieure des zwanzigsten Jahrhunderts, schreibt: „… denn der Mensch hat auch eine Seele, er will sich wohlfühlen, er braucht dazu eine Umwelt mit ästhetischer Ausstrahlung, die sich mit einem Minima an Materie nicht erreichen lässt.” Wer kennt nicht das Märchen „Des Kaisers neue Kleider”? Liebe Freunde des Sichtbetons, der Kaiser ist nackt. Brutale Bauten aus rohem Beton haben eine ähnliche Faszination wie Ruinen. Beton – man hat nichts damit zu tun und geht halt vorbei. Beton ist kalt, schwer und abweisend.

Claudia Bau
Foto: Ruedi Walti, Basel
Quelle: Malerblatt 05/2014
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