Lange Jahre galt in Planerkreisen: Wenn schon Putz an der Fassade, dann eine möglichst feinkörnige Variante.
Getreu dem Ansinnen der großen Meister der Moderne, dass die Gebäudehülle nicht über das Konstruktive hinaus gestaltet sein sollte, hatten erkennbare Strukturen dort nichts verloren. Doch ebenmäßige Flächen setzen höchste Perfektion voraus: einen perfekt glatten Untergrund, perfekte Bedingungen an der Baustelle und eine perfekte Verarbeitung. Dass dies in der Theorie zwar funktioniert, aber in der harten Baustellenrealität oftmals an Grenzen stößt, weiß jeder Praktiker. Zumal die Preisvorstellungen der Auftraggeber meist nicht mit den Notwendigkeiten für solche Oberflächen in Einklang zu bringen sind.
Nun aber darf das Korn wieder gröber werden, sogar sechs Millimeter werden nachgefragt, was ausgesprochen charaktervolle und außergewöhnliche Strukturen ergibt. Kellenwurfstrukturen werden wiederentdeckt, wenngleich nicht immer mit den traditionellen Verfahren umgesetzt – denn auch das Grobe verlangt auf seine Weise besondere Perfektion und Können. Mit dem Korn verwandelt sich die Fassade in eine vieldeutige Landschaft voller Erhebungen und Tiefen, in eine dreidimensionale Fläche, auf der durch den Tageslauf wie auch den jahreszeitlichen Stand der Sonne ein permanent wechselndes Licht- und Schattenspiel abläuft.
Nicht mehr die Ebenmäßigkeit ist das Maß aller Dinge, sondern die kreative Arbeit mit der Struktur, mit dem Korn, der Farbe. Denn die neuen Strukturen sind nicht mehr monoton grau, beige oder weiß, sondern farbig. Die Farbe – aktueller denn je – überlagert die Putzoberfläche und spielt mit ihr. So steht die Beschichtung mit leuchtenden Bunttönen der harten, steinigen Anmutung der bloßen Struktur entgegen, verfremdet den Ausdruck gewissermaßen. Auch auf andere Weise kann Farbe auf Struktur reagieren: Etwa indem nur die Spitzen der Struktur lasierend überfasst werden, die Tiefen hingegen in einer anderen Grundfarbigkeit erstrahlen. Je nach Kontrast zwischen Grund- und Lasurton verstärkt sich die plastische Wirkung der Struktur, die sich erst aus einer bestimmten Entfernung einstellt.
Gleiches gilt für den mehr oder weniger subtilen Wechsel von Strukturen, etwa wenn Leibungen fein gefilzt sind, die umgebende Fläche sich jedoch in grobem Korn darbietet. Diese ebenfalls erst in der Nahsicht erkennbare Differenzierung macht die Fassade zu einer doppelgesichtigen Erscheinung, überrascht, belebt, begegnet der Einförmigkeit.
Kurzum: Das volle Korn bietet viele neue Chancen für Handwerker, die nicht nur über die Jahre eingefahrene Standards reproduzieren, sondern in eine neue – und doch vertraute – Welt der Gestaltung eintauchen wollen.
Quelle: Malerblatt 11/2011 Autor: Uwe Koos Fotos: Sto AG